Ein gläserner Kasten senkte sich über die beiden Seelen. So ergab sich ein Raum. Warum eigentlich genau dieser Raum? Er unterschied sich nicht von anderen Räumen. Aber vielleicht war das die Tatsache, welche den Raum so besonders machte. Diese Kargheit, befreit von jeglichen Eigenheiten. Hier herrschte neutraler Boden, hier konnte es passieren. Was passieren? Nichts. Das nichts passierte hier tagtäglich.
In der sterilen Atmosphäre umgeben von einem Schleier aus Stille. Nicht einmal das leichte aufbäumen des Gefieders verursachte einen Laut, der diese Stille zu durchdringen vermochte.
In der Mitte des Glaskastens befand sich eine Stange. Also doch eine Eigenheit. Wie viele gläserne Räume mit einer einzigen Stange in der Mitte vermag es auf der Welt zu geben. Sie war das Sinnbild der Standhaftigkeit, eine Feste der Unerschütterlichkeit. So wie sich diese Stange in jenem Raum befand, konnten Generationen von dem Schutz der Stange profitieren und ihr Leben darauf verbringen. Aber es war zur gleichen Zeit auch nur eine einfache, hölzerne Stange.
Auf jener Stange saßen die zwei Wellensittiche. Beide mit prächtigem Glanz auf ihren anmutigen kurvigen Vogelkörpern. Jederzeit bereit, diese aerodynamische Errungenschaft der Natur auf das dreifache ihrer Größe auszubreiten. Doch die beiden waren ganz still. Keiner von beiden hatte die Absicht die Flügel auszubreiten und davonzufliegen. Wohin auch. Um sie herum erstreckte sich der Glaskasten. Wie lang saßen sie schon darin. Zwei Monate, drei Jahre? Wenig hatten sie sich zu sagen. In ihrem gläsernen Bollwerk der Sterilität geschah nichts. Zu tun gab es nichts. Also saßen sie da und schwiegen. Zwei Monate, drei Jahre? Keiner von beiden konnte sich erinnern.
Geprägt von ihrem Leben auf der Stange, wurden sie immer kleiner. Sie wurden auch immer unglücklicher, zumindest soweit sie das beurteilen konnten. Über das Leben philosophierten sie selten. Sie sprachen eigentlich nie. Gelegentlich begann einer zu zwitschern. Der andere, verwirrt von dieser Abstrusität, stimme nie mit ein. Zu groß war die Scham. Sie überkam ihn unbewusst, schlich sich wie ein Bandwurm in sein Bewusstsein und erhitzte sein Blut. Es durchflutete sein Gefieder wie Magma. Doch er saß da und blieb stumm. Obwohl sie schon sehr lange gemeinsam auf dieser Stange saßen.
Eines Morgens fiel der erste Sonnenstrahl in ihr kleines Glasgefängnis und nährte ihr Gefieder mit der Wärme der Natur. Einer der beiden Wellensittiche fühlte sich gedrängt, einfach loszuzwitschern und seinen Emotionen die Kontrolle über die Geschehnisse im Glaskasten zu lassen. Also zwitscherte er. Der andere, bedrückt von diesem seltsamen Verhalten, ging seiner obligatorischen Tätigkeit nach und saß. Saß auf seiner Stange wie er es jeden Morgen tat.
Doch der zwitschernde Wellensittich bemerkte, dass an diesem Morgen etwas anders war. Die Sonnenstrahlen fühlten sich wärmer, nährender und besser als sonst an. So also streckte er seine Flügel aus. Er wirkte riesig, schon fast bedrohlich groß, aber prächtig in seiner vollkommenen, naturgegebenen Eleganz. Er konnte sich nicht erinnern, bereits schon einmal geflogen zu sein, aber er wusste, dass er fliegen wollte. Und fliegen konnte. Also erhob er sich von der Stange und stieß sich mit aller Kraft von ihr ab. Und er flog. Er flog einfach davon. Ihn überkam ein Gefühl der Freiheit, so losgelöst von der Stange. Der Wind füllte sein Gefieder mit Volumen. Groß und mächtig kam er sich vor, so weit oben, so durchdrungen vom Wind der Freiheit. Es war nicht mehr nur ein Hauch, kein seichter Atemzug. Es war die losgelöste Freude über das Leben in der Luft, einer Gottheit ohne Körper gleich. Er dachte nicht mehr an den Glaskasten und nicht an den anderen Wellensittich, der da unten auf ihn wartete. Aber er fühlte sich bedrückt, fühlte sich unvollkommen in seiner göttlichen Vollkommenheit da oben in der Luft. Also sah er nach unten. Der Glaskasten war kaum noch zu sehen. Als er sich anstrengte und genauer hinsah, konnte er auch keinen Kasten mehr erkennen. Nur noch eine Stange. Eine leere Stange. Am Boden, direkt unter der Stange, lag ein toter Wellensittich.
Also flog er davon. Man sah ihn nie wieder, soweit flog er.
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